„Interpret
bedeutet von der Wortwurzel her Übersetzer. Er sollte die Botschaft des
Komponisten - auf persönliche Weise - übersetzen, um eine möglichst tief
greifende Wirkung beim Publikum zu erzielen.
Durchaus kann es dann notwendig sein, etwa die Dramatik eines Werkes zu
übertreiben, um beim reizüberfluteten Publikum von heute, jene Wirkung, welche
der Komponist wollte, zu erzielen.
Wichtig ist es, dass ein Übersetzer - ein Interpret - kein Selbstdarsteller
werden darf; stets muss die Botschaft des Komponisten im Zentrum sein. Der
Interpret hat eine Verantwortung gegenüber dem Komponisten und dem Publikum.
Aber auch sich
selbst
gegenüber hat der Interpret eine Verantwortung!
Er sollte Musik nur auf
eine Weise
interpretieren, von
der er persönlich
überzeugt ist - nur so kann er auch das Publikum überzeugen.
Die erste Aufgabe des Interpreten ist es, das Werk zu verstehen. Er muss die
Beziehungen der Töne zu einander erleben - die Spannung und Entspannung, welche
durch den Rhythmus (die kurzen und langen Töne) und das Metrum (die
wiederkehrenden schweren und leichten Taktteile) entsteht, fühlen - die
Intervallspannungen in der Melodie, die Dissonanzen und Konsonanzen der Harmonie
und
der Polyphonie (Mehrstimmigkeit) nachempfinden - hören können wie sich die
Harmonien, bei tonaler Musik, zu einem tonalen Zentrum beziehen. Weiters muss
der Interpret die Form der Komposition erleben, wie sich die Melodie in Phrasen
zergliedert, welche sich hierarchisch in immer noch größere Einheiten
zusammenfassen. Auch dem Melodienverlauf soll er folgen. Er muss erleben, wie
die Melodie die ganze Skala der Ausdrucksweise der Sprache verwendet, sich
Atempausen von unterschiedlicher Länge bedient, Fragen und Antworten stellt und
Ausrufe macht. Dabei soll er gleichzeitig der Bassstimme und den Mittelstimmen -
die ja auch melodisch aufzufassen sind - folgen. Der Interpret muss auch den
Charakter der einzelnen Teile, und wie diese sich zu einander und zum ganzen
Stück verhalten, fühlen. Ferner, um die Notation eines Komponisten richtig
deuten zu können, muss sich ein Interpret Kenntnisse der Aufführungspraxis der
jeweiligen Zeit des Komponisten aneignen.
Wenn ich eine Komposition lerne, verwende ich meine Übungszeit
hauptsächlich dafür, diese richtig zu verstehen und zu erleben. Dafür scheue ich keine Mühe.
Ich lerne immer alle Stimmen auswendig auf Tonnamen
zu
singen , während
ich das Stück spiele.
Ich lerne also nicht nur die Oberstimme, sondern auch die Bass- und
Mittelstimmen. Weiters untersuche ich die Harmonien, den Kontrapunkt, die Form
und alle andere Elemente der Musik, welche schon erwähnt worden sind - zunächst
jedes Element für sich und dann in Verbindung. Dadurch versichere ich mich,
dass
mir nichts in der Komposition entgeht, dass ich alle Töne
bewusst
erlebe und dass alle Töne auf einander bezogen sind. Dies ist immer die
Grundlage für meine Interpretationen.
Ich lebe mit
dem Werk, atme es, höre es in meinem Kopf, während des Tagesablaufes.
Viele gute Hinweise zu musikalischer Interpretation bieten sich an, wenn man
Sprache und Musik vergleicht. Zum Beispiel, durch die Dehnung von Wörter und
Silben werden diesen Gewicht verliehen
- genauso kann man in der Musik wichtige
Töne und Passagen dehnen. Weiters kann man durch die Sprache die gleiche
Botschaft auf sehr vielfältige Weise
ausdrücken, oder die gleichen Wörter
-
etwa bei
einem Gedicht oder einem Drama, sehr unterschiedlich darstellen.
Dies wirft die Frage nach der Freiheit des Interpreten auf. Wenn die Beziehungen
der Töne einer Komposition erlebt werden, dann kann und soll jede Aufführung des
Werkes anders gestaltet werden - aber die Töne müssen auf einander bezogen
bleiben.
Die Aufführung des Werkes kommt dann einer Improvisation gleich
-
einer ständigen Neuerschaffung des Werkes.
Der Interpret soll bei der Aufführung bloß der Musik im Raum zuhören und ‚es’ spielen lassen. Wenn die Vorbereitung des Interpreten richtig war und keine hemmenden und blockierenden Kräfte in ihm vorhanden sind, kann er zu einem Instrument für höhere Kräfte werden."